Didaktische Ansprüche an Homeschooling und Fernunterricht:
In einem Gastbeitrag setzt sich der profilierte Schulpädagoge Prof. Dr. Hilbert Meyer mit den aktuellen Bedingungen auseinander, denen sich Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler und Eltern ausgesetzt sehen. Welche Herausforderungen bringen Homeschooling und Fernunterricht für alle Beteiligten mit sich? Hilbert Meyer leitet daraus sechs didaktische Anforderungen an Homeschooling und Fernunterricht ab, die er für diesen Gastbeitrag formuliert hat.
Dr.Hilbert Meyer, geb. 1941, ist emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Didaktik, Unterrichtsmethodik; Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Dr.Hilbert Meyer, geb. 1941, ist emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Didaktik, Unterrichtsmethodik; Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Die Corona-Pandemie hat den Schulbetrieb in Deutschland gründlich durcheinander gewirbelt, aber auch die hohe Flexibilität dieser von manchen als unbelehrbar kritisierten Institution gezeigt. Insbesondere das Homeschooling ist von vielen Schulen überraschend schnell eingeführt worden. Es zwingt aber auch, die Qualitätskriterien für Unterricht neu zu durchdenken. Dabei dürfte die Mehrzahl der in den letzten 20 Jahren veröffentlichten Kriterienkataloge [z.B. von der Forschergruppe COACTIV (Kunter & Voss 2011), von Andreas Helmke (2012) oder auch von mir (Meyer 2004)] ihre Gültigkeit behalten. Die Beachtung mancher Kriterien dürfte trotz deutlich erschwerter Arbeitsbedingungen sogar noch wichtiger geworden sein, z.B. die Herstellung eines lernförderlichen Klimas, die Transparenz der Leistungserwartungen und der Anspruch, nicht nur triviale Übungsaufgaben, sondern auch anspruchsvolle offene Aufgaben mit einem hohen Niveau an Selbststeuerung und -kontrolle zu stellen.
Alle Lehrpersonen, mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, hatten deutlich mehr Arbeit als vor Beginn des Homeschoolings. Die von einigen Wenigen geäußerte Meinung, Lehrer würden sich beim Shutdown auf die faule Haut legen und bezahlten Urlaub machen, ist schierer Unsinn. Homeschooling macht aber auch – wie durch ein Brennglas vergrößert – die Schwächen unseres Schulsystems deutlich (vgl. Initiativgruppe Bildungsgerechtigkeit 2020): Wer kein hilfreiches Elternhaus hat, wer nur unzureichend lesen kann, wer Deutsch nicht als Muttersprache spricht, wer beim Lernen auf Lob und Ermutigung angewiesen ist, ist beim Homeschooling gleich mehrfach benachteiligt. Er nimmt die gebotenen Hilfen an oder er taucht ab. Das gilt nicht nur für Hauptschüler*innen. Eine Gymnasiallehrerin schreibt mir: «Es gibt einzelne SchülerInnen, die «verschollen» sind und sogar einen Vater, der die Digitalisierung boykottiert. Das sind zusätzliche Probleme, die mir wirklich Sorgen machen und an denen wir so gut es geht arbeiten.» Die in Deutschland schon vor der Krise vergleichsweise niedrige Chancengleichheit sinkt beim Homeschooling noch weiter.
Einführung
Der Begriff Homeschooling hat durch die Corona-Pandemie eine veränderte Bedeutung erhalten. Es geht nicht um die in Deutschland verbotenen Versuche, Kinder durch häuslichen Unterricht vor dem verderblichen Einfluss des staatlichen Schulwesens zu schützen, sondern darum, angesichts des Shutdowns der Schulen eine Fortsetzung der Unterrichtsarbeit im häuslichen Umfeld zu ermöglichen. Ich definiere (mit Formulierungshilfen von Till-Sebastian Idel, meinem Lehrstuhl-Nach-Nachfolger an der Uni Oldenburg):
Homeschooling ist ein durch die Schule organisierter, Fernunterricht, in dem das gemeinsame Arbeiten in der Klasse/im Lernverband zeitlich befristet aufgehoben und durch individualisierte Hausarbeit ersetzt wird. Sie wird in unterschiedlichem Umfang von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten beaufsichtigt und von der Schule durch die Arbeit mit Bildungsservern und den Einsatz digitaler Medien unterstützt.
Fernunterricht (distance learning) ist übrigens nichts Neues. Schon vor 80 Jahren wurden Farmer-Kinder im australischen Busch viele Monate lang nur über Funk unterrichtet.
Homeschooling setzt basale Fähigkeiten zur Selbststeuerung des Lernens voraus. Deshalb kann es vor allem dann erfolgreich sein, wenn schon vor seiner Einführung Arbeitstechniken und Haltungen für selbstgesteuertes Arbeiten entwickelt worden sind. Schüler*innen, die Wochenplanarbeit gewohnt sind, haben es deshalb beim Homeschooling leichter.
Beim Homeschooling wird ein radikaler Schritt hin zu der seit langem geforderten stärkeren Individualisierung des Lernens gemacht, auch wenn sich das die Befürworter der Individualisierung anders vorgestellt hatten. Das bedeutet nicht, dass die Direkte Instruktion ganz verschwindet. Über Videokonferenzen, Skypen, Chatrooms usw. ist sie weiterhin möglich. Aber sie erhält einen anderen Stellenwert und wird im Umfang deutlich reduziert. Hier liegen aber auch die grundsätzlichen Grenzen des Homeschoolings. Wenn es länger als zwei oder drei Monate andauert, dürften bei einer ganzen Reihe von Schüler*innen gravierende Verwerfungen der Arbeitshaltung und der Lernkultur eintreten.
Hinzu kommen datenschutzrechtliche Bedenken. Die Lernplattformen der Kultusministerien sind zumeist o.k., die Nutzung von YouTube auch, während Facebook und Whatsapp-Gruppen datenschutzrechtlich bedenklich sind.
Blended Learning: Die meisten Bundesländer starten im Monat Mai 2020 mit Blended Learning. Der vom blended whiskey hergeleitete Begriff wird schon seit gut 30 Jahren für alle Lehr-Lernformate genutzt, in denen der herkömmliche schulische Präsenzunterricht mit E-Learning gekoppelt wird. So hofft man, wie beim Whiskey durch eine geschickte Mischung mehrerer Brände ihre unterschiedlichen Stärken zu kombinieren und die Schwächen zu kompensieren. Insbesondere die leistungsschwächeren Schüler*innen und solche mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollen, so die Hoffnung, davon profitieren.
Bleibt zu fragen, wie dieser zumeist auf einen halben Schultag begrenzte Präsenzunterricht gestaltet wird. Die ersten Erfahrungsberichte dokumentieren einen erzwungenen Rückfall in die Steinzeit-Didaktik: Frontalunterricht mit kurzatmigen Frage-Antwort-Ritualen. Das ist kein Vorwurf an die Lehrpersonen, sondern eine Folge der Sicherheitsauflagen.
Was sich aktuell tatsächlich beim Homeschooling, beim Präsenzunterricht und beim häuslichen Lernen abspielt, sollte aber nicht nur an den mehr oder weniger zufälligen Erfahrungsberichten in den Medien festgemacht, sondern zum Gegenstand gründlicher empirischer Studien gemacht werden. Das hilft aktuell wenig, kann aber dazu beitragen, die richtigen Konsequenzen aus der Corona-Krise zu ziehen.
Überforderte Eltern?
Beim Homeschooling übernehmen Eltern und Erziehungsberechtigte unversehens eine deutlich gestiegene Verantwortung für das Lernen ihrer Kinder – oder sie tun es nicht, weil sie dies nicht wollen oder nicht können. Und viele Eltern entdecken, wie anstrengend die Moderation von Lernprozessen sein kann. Der Respekt vor dem Lehrerjob wächst. Und das ist gut so!
Homeschooling erfordert halbwegs ausreichende häusliche Arbeitsbedingungen: einen ruhigen Arbeitsplatz, einen Laptop oder ein Smartphone und Unterstützung durch Eltern bzw. Erziehungsberechtigte. Das ist keinesfalls für alle gewährleistet. Eine OECD-Studie aus dem Jahr 2018 belegt, dass Deutschland auch in dieser Hinsicht Schlusslicht in Europa ist. Natürlich schlägt nun auch die Stunde der Helikopter-Eltern. Sie können ihren Kindern hemmungslos beim Herstellen präsentabler Arbeitsergebnisse helfen, was kein Schade ist, aber für die Lehrpersonen ein Problem bringt, das sie alle schon von Facharbeiten kennen: Eine gerechte Bewertung des tatsächlichen Leistungsstands wird deutlich erschwert.
Die Perspektive der Schüler*innen
Ich habe eine kleine, in keiner Weise repräsentative Email-Umfrage unter Sek-I-Schüler*innen und eine mündliche Befragung einiger Kinder aus der Nachbarschaft (Klasse 2 bis 4) mit mehrheitlich akademischem Elternhaus gemacht. Die Ergebnisse ergeben ein buntscheckiges Bild. Eine Gymnasiastin, Klasse 7:
Uns wurden relativ wenig Aufgaben gegeben, hauptsächlich zur Wiederholung, wie z.B. in Mathe. Dort wurde uns über IServ ein Link zu einer Internetseite gegeben, bei der wir online Aufgaben lösen können, die dann sofort korrigiert werden. Auch in Deutsch haben wir Aufgaben bekommen, die wir uns auf einem Arbeitsblatt ausdrucken können. (…) Also insgesamt ist das alles bei uns ganz locker.Schülerin
Eine leistungsstarke Berliner Gymnasiastin (Klasse 9, Name geändert) hat dabei ein sehr differenziertes und ausgewogenes Urteil zu vier von mir gestellten Fragen produziert:
Hilbert: Gab es eher zu viele Hausaufgaben oder zu wenig?
Valeska: Ich hatte das Gefühl, dass es jetzt viel mehr Hausaufgaben gab. Dennoch fand ich es eigentlich gerade richtig und es war zu schaffen. Das Komplizierte war, die Abgabetermine der verschiedenen Fächer auseinander zu halten.
Waren die Aufgaben eher zu anspruchsvoll oder eher zu einfach?
Das kommt ganz auf das Fach an. In manchen Fächern fand ich die Aufgaben durchaus nicht so leicht, aber in anderen war es super so. Ich denke, das kommt auch darauf an, in welchen Fächern man in der «normalen» Schule gut ist und in welchen eher nicht.
Gab es Unterschiede zwischen den Fächern?
Also bei mir war das durchaus unterschiedlich. Zum Beispiel in Deutsch, Physik, Chemie und Griechisch habe ich viel mehr aufbekommen als in Latein, Mathe oder Religion. Das hat mich allerdings nicht wirklich gestört.
Gab es «offene» Aufgaben, bei denen Ihr selbst entscheiden konntet, wie Ihr die Aufgabe löst?
Ich würde sagen, dass es vor allem in Deutsch und Religion «offene» Aufgaben gab. Denn in diesen Fächern muss man ja immer auch selber interpretieren und da denkt sich natürlich meist jeder Schüler etwas anderes aus. Aber wir haben in dieser Zeit in Mathe auch ein kleines Projekt gemacht, in dem sich jeder Schüler irgendeine Pyramide aussuchen und dann zu dieser einen Steckbrief machen sollte. Das Mathematische bestand darin, den Oberflächeninhalt und das Volumen dieser Pyramide herauszufinden. Diese Aufgabe war natürlich nicht ganz so offen, aber ich glaube, dass trotzdem jeder Schüler individuell entscheiden konnte, wie er den Steckbrief gestaltet. In unserem Werkunterricht, das ist so etwas wie Kunst, mussten wir einen Mundschutz machen. Da war natürlich auch offen, wie man ihn machen und gestalten will.
Zusammengefasst: Die Aussagen zum Umfang und zum Schwierigkeitsgrad der Aufgaben variierten sehr stark zwischen den verschiedenen Fächern. Manchmal erschienen sie läppisch, manchmal waren sie kaum zu bewältigen. An mehreren Schulen fehlte in der Anfangsphase eine ausreichende Abstimmung zwischen den Fächern. Offene Aufgaben wurden in fast allen Fächern an fast allen Schulen gestellt, allerdings nicht von allen Lehrpersonen. Direkte Rückmeldungen zu den abgelieferten Aufgaben wurden auf dem Schulserver oder per Email/Telefon gegeben; dies wurde von allen Schüler*innen begrüßt.
Die Perspektive der Lehrer*innen
Nahezu alle Lehrpersonen haben in den letzten Wochen einen Crashkurs in Mediennutzung absolviert. Alle mussten in kürzester Zeit eine Fülle von Lernaufgaben in digitale Formate übertragen, alle mussten individuellen Kontakt mit den Schüler*innen aufbauen und sich um jene kümmern, die keinen Internetanschluss und Laptop haben. Die meisten haben das erste Mal in ihrem Leben an einer Video-Konferenz teilgenommen. Nur wenige, die schon vorher die Digital-Erfahrenen im Kollegium waren, waren gut vorbereitet. Aber die meisten Erfahrenen haben ihre Kompetenzen bereitwillig in die Unterstützung der anderen Kolleg*innen eingebracht. Insbesondere die Medienmuffel unter den Lehrpersonen (deren genaue Anzahl niemand kennt) wurden stark gefordert.
Aber sie haben sich arrangiert, was langfristige Folgen für die Gestaltung des Unterrichtsangebots aller Schulen haben dürfte: E-Learning wird zu einer selbstverständlichen Ergänzung des Präsenzunterrichts werden. Es gibt also nicht nur Nachteile. Ein Schulleiter aus NRW schreibt:
Wir machten die überraschende Erfahrung einer ausgeprägten sozialen Nähe trotz der physischen Distanz.
Die selbst gesetzten Ansprüche an das Homeschooling variieren allerdings von Schule zu Schule deutlich, und dies hat offensichtlich so gut wie nichts mit der Schulstufe oder der Schulform zu tun, wohl aber mit einer beherzten Schulleitung.
Didaktische Ansprüche
Anhand welcher Maßstäbe kann, abgesehen von den Problemen der technischen Umsetzung und der verlässlichen Systemadministration, die Qualität des Homeschoolings bewertet werden? Ich nenne insgesamt sechs Punkte und merke schon hier an, dass sich niemand, der seinen herkömmlichen Unterricht innerhalb von wenigen Tagen auf Homeschooling umstellen musste, zu entschuldigen hat, wenn nicht alle Ansprüche auf die Schnelle realisiert werden konnten.
Das vor Beginn des Homeschooling aufgebaute Arbeitsbündnis nutzen!
Unterricht kann nur funktionieren, wenn Lehrpersonen und Schüler*innen eine Verantwortungsgemeinschaft bilden und sich gegenseitig beim Lehren und Lernen unterstützen. Dem dient das, was ich in meinen Veröffentlichungen als Arbeitsbündnis bezeichne: ein impliziter oder auch förmlich geschlossener didaktisch-sozialer Vertrag zwischen der Lehrperson und ihren Schüler*innen über geteilte Rechte und Pflichten. Andere Autor*innen nutzen andere Begriffe, meinen aber das Gleiche: So forderte der Potsdamer Didaktiker Lothar Klingberg (1990, S. 154 ff.), das »kollektive Subjekt des Unterrichts« herauszubilden. Und der Psychologe Franz E. Weinert sprach von den Schüler*innen als »Ko-Konstrukteuren« des Unterrichts. Bei allen drei Begriffen geht es darum, die Schulklasse als Verantwortungsgemeinschaft zu stärken. Aber was heißt das, wenn Homeschooling gemacht werden muss?
- Die optimistische Annahme: Das Arbeitsbündnis bewährt sich im Homeschooling und erzwingt geradezu die Ko-Konstruktion der Schüler*innen. Sie müssen sich ja weitgehend allein ihren Reim darauf machen, was die Lehrperson wohl mit der gestellten Aufgabe gemeint haben könnte. Wenn die Aufgabenstellung offen formuliert worden ist (was sehr zu begrüßen ist), gilt dies erst recht.
- Die pessimistische Annahme: Das Arbeitsbündnis zerbröselt! Die lernfaulen Schülerinnen und Schüler finden kluge Ausreden, gar nicht erst anzufangen; die Leistungsschwächeren verzweifeln und stellen die Lernarbeit ein. Die Eltern wissen nicht, ob und wie sie helfen sollen.
Till-Sebastian Idel hat mir per E-Mail einen kritischen Kommentar zum Stichwort Arbeitsbündnis geschickt und angemerkt, dass das Arbeitsbündnis beim Homeschooling noch komplizierter und auch ambivalenter wird, als es schon im regulären Unterricht der Fall ist. Er schreibt:
Mit der «Verschulung» der Familie rückt neben dem Bündnis der Lehrperson mit dem einzelnen Schüler auch das mit den Eltern stärker in den Vordergrund. Schule und Familie sind an sich eher Gegenwelten; sie stehen in einem Differenzverhältnis zueinander. Nun werden die Eltern tendenziell zum verlängerten Arm der Schule. Diese Indienstnahme von Eltern durch die Schule kann die familialen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern belasten, die ja gerade in der Corona-Situation in keinen gewöhnlichen Alltag eingebettet sind.
Darüber hinaus muss die Lehrperson versuchen, die dyadischen Beziehungen zu den einzelnen Schüler*innen an das kollektive Arbeitsbündnis mit der ganzen Klasse/Lerngruppe rückzubinden, um einen gemeinsamen Lehr-Lernprozess aufrechtzuerhalten. Werner Helsper, der schulische Arbeitsbündnisse empirisch untersucht hat, spricht hier davon, dass das Arbeitsbündnis mit den einzelnen Schüler*innen »re-universalisiert« werden muss. Dadurch wird es deutlich komplizierter und auch ambivalenter.
Ein lädiertes Arbeitsbündnis zwischen Lehrern und Schülern per E-Mail oder im Video-Chat zu erneuern, dürfte schwierig werden. Aber es ist nicht unmöglich. Erfahrungsberichte zeigen, dass viele Schüler*innen die direkte Ansprache – und sei sie nur per E-Mail oder Telefon – genießen.
Mit kognitiv und sozial aktivierenden Aufgabenstellungen arbeiten
Seit gut 15 Jahren wird gefordert, kognitiv aktivierende Aufgabenstellungen zu entwickeln (Kunter & Voss 2011). Ich ergänze: Sie sollten nicht nur kognitiv, sondern auch sozial aktivierend sein und darüber hinaus auf unterschiedlichen Leistungsniveaus formuliert werden, um innere Differenzierung zu ermöglichen. Solche pfiffigen Aufgabenformate zu entwerfen, die kognitiv aktivierend, zur Zusammenarbeit herausfordernd und unterschiedliche Anspruchsniveaus berücksichtigend konstruiert sind, ist für Homeschooling besonders wichtig, ihre Erarbeitung ist aber auch besonders anspruchsvoll. Viel Erfahrung, fachdidaktisches Know-how und methodische Phantasie sind gefragt. Ob und wie Tandemarbeit auf dem Schulserver gestaltet werden oder von Haus aus mit Klassenkameraden organisiert werden kann, überblicke ich nicht. Genaue empirische Daten über das Anspruchsniveau der Homeschooling-Aufgabenstellungen liegen noch nicht vor. In einem Jahr werden wir klüger sein. Aber schon jetzt ist klar, dass es erhebliche Unterschiede geben wird!
Selbstreguliertes Lernen stärken
Der lange vor der Coronakrise gestartete Digitalisierungs-Hype lebt von der Behauptung, dass die Digitalisierung des Unterrichts die Selbstregulationskräfte der Schüler stärke und dadurch die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Weiterlernen fördere (so die KMK 2016, S. 9). Allerdings müssen einige Gelingensbedingungen gegeben sein, um aus diesen Hoffnungen Wirklichkeit werden zu lassen. Die US-amerikanischen Unterrichtsforscher Edward Deci & Richard Ryan nennen in ihrer »Selbstbestimmungstheorie der Motivation« (1993) drei solche Bedingungen: Kompetenzerfahrungen, Autonomieerlebnisse und Solidaritätserfahrungen. Für die ersten zwei bieten die digitalen Unterrichtsmedien im Prinzip gute Rahmenbedingungen, für Solidaritätserfahrungen gibt es jedoch kaum Möglichkeiten, wenn man davon absieht, dass sich Geschwister oder Eltern als solidarisch erweisen können.
Feedback nehmen und geben!
Wörtlich übersetzt heißt Feedback Rückfütterung. Die Lehrperson soll durch die Rückmeldungen satt werden und das erfahren, was sie für die Steuerung der individuellen und gemeinsamen Lernprozesse wissen muss. Das ist – wenn auch bei erheblichem Arbeitsaufwand – mit digitalen Medien gut möglich. Es darf aber nicht nur darum gehen, dass fertige Arbeitsergebnisse kommentiert werden. In der Leistungsdiagnostik wird zu Recht zwischen »formativen« und »summativen« Rückmeldungen unterschieden (Maier u. a. 2012). Sie sind formativ, wenn sie während des Lernprozesses, summativ, wenn sie nach Abschluss einer Lerneinheit gegeben werden. Für die formative Leistungsdiagnostik hat Hattie die hohe Effektstärke von d = 0.73 errechnet. Daraus kann gefolgert werden, dass Unterricht an Lernwirksamkeit verliert, wenn die Lehrperson versucht, so weit wie möglich in den Hintergrund zu treten.
Das hat auch eine Metaanalyse von Kirschner et al. (2006) mit dem Titel »Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work« bestätigt: Wenn die Schüler*innen z. B. im projektförmigen Unterricht einfach nur sich selbst überlassen werden, haben sie zwar gute Arbeitsergebnisse – aber sie haben nichts oder nur wenig hinzugelernt, weil sie bei der Arbeit überwiegend nur das gemacht haben, was sie schon lange gut konnten.
Aber genau dieses Zurücktreten der Lehrperson ist konstitutiv für Homeschooling. Deshalb haben viele engagierte Lehrpersonen flankierende Maßnahmen ergriffen: Die Schüler*innen können jederzeit per E-Mail Fragen stellen, sie können telefonieren und schreiben und sie bekommen ungewohnt schnell Antworten. Eine Gymnasialschülerin aus Klasse 7 mit Muttersprache Deutsch schreibt:
Hallo Frau C. danke das sie mir das nochmal gesagt haben Ich werde mich dann diereckt drum kümmern wenn ich mit den heutigen aufgaben fertig habe.
Eine Kollegin schreibt:
Das Feedback funktioniert digital differenzierter als vorher. Denn ich habe jetzt die Zeit, viel individuelles Feedback per Email zu geben (anstatt die Zeit mit Classroom-Management, Pausenaufsichten etc. zu vertrödeln). Und die Schüler*innen können schwarz auf weiß nachlesen.
Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler bevorzugen!
Seit PISA-2000 ist bekannt, dass die soziale Kopplung des Unterrichtserfolgs in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Schüler aus akademischem Elternhaus haben bei gleichem Leistungsvermögen in Klasse 5 deutlich größere Chancen, bis zum Abitur zu kommen, als die Schüler ohne diesen lernförderlichen Hintergrund. Wir können davon ausgehen, dass sich die negativen Wirkungen der sozialen Kopplung beim Homeschooling potenzieren. Für leseschwache Schüler*innen ist Homeschooling eine Katastrophe! Das sagt auch die Forschung. Schon vor der Corona-Krise erwarb ein erschreckend großer Teil der Fünfzehnjährigen nicht die für eine erfolgreiche Berufsausbildung erforderlichen Digitalkompetenzen. Birgit Eickelmann schreibt im ZEIT-online Interview (November 2019):
Fast 30 Prozent der Jugendlichen in Deutschland verfügen nur über unzureichende Computer- und IT-Kompetenzen und werden es schwer haben, erfolgreich am privaten, beruflichen sowie gesellschaftlichen Leben des 21. Jahrhunderts teilzuhaben.
Diese 30 Prozent werden durch Homeschooling noch mehr benachteiligt. Sie sind besonders deutlich auf individuelle Hilfen ihrer Lehrpersonen angewiesen, sie haben zu Hause keinen ruhigen Arbeitsplatz, kein technisches Equipment und kaum oder nie Erziehungsberechtigte, die ihnen bei der Erledigung von Aufgaben helfen. Daraus folgt: Die Risiko-Schüler müssen beim Homeschooling mehr Aufmerksamkeit als die anderen erhalten und mit Vorrang betreut werden.
Den Einsatz von Arbeitsblättern drosseln!
Ich fürchte, dass die Schüler*innen in diesen Monaten eine Flut von Arbeitsblättern und Arbeitsheften erhalten, deren Bearbeitung recht schnell als extrem langweilig und wenig herausfordernd empfunden wird. Schon im Jahr 2002 schrieb der US-amerikanische Unterrichtsforscher Jere Brophy zu diesem Thema:
Lückentext-Arbeitsblätter, Blätter mit Rechenaufgaben und Aufgaben, die Schüler nur dazu bringen, Fakten zu memorieren oder isolierte Operationen durchzuführen, sollten so wenig wie möglich im Unterricht eingesetzt werden.Jere Brophy (Brophy, in: Meyer 2004, S. 111)
Recht hat er – aber die Alternative, nämlich die Arbeit mit anspruchsvolleren Aufgabenstellungen, erfordert besondere Aufmerksamkeit, weil das im schulischen Unterricht gut mögliche prozessbegleitende Nachsteuern der Aufgabenstellungen nicht möglich ist.
Zusammengefasst: Die Qualitätssicherung von Homeschooling stellt eine Herkulesaufgabe dar, die nicht auf die Schnelle umgesetzt werden kann, sondern viel Engagement, didaktisch-methodische Phantasie und die Ausschärfung unserer Qualitätskriterien für die Arbeit mit digitalen Unterrichtsmedien erfordert.
Literaturnachweise
Deci, E. & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 39, H. 2, S. 223–238.
Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Helmke, A. (2012). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Seelze: 4. Aufl. Klett Kallmeyer.
Initiativgruppe Bildungsgerechtigkeit (Brügelmann, Groeben, Meyer u. a.)(2020). Bildung gegen Spaltung. Frankfurt/M.: DEBUS Pädagogik.
Klingberg, L. (1990). Lehrende und Lernende im Unterricht. Berlin: Volk und Wissen.
KMK (2016). Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Berlin: Sekretariat der Kultusministerkonferenz.
Kunter, M. & Voss, T. (2011). Das Modell der Unterrichtsqualität in COACTIV. In: Kunter, Baumert u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Münster: Waxmann, S. 85–113.
Maier, Uwe/Hofmann, Florian & Zeitler, Sigrid (2012). Formative Leistungsdiagnostik.München: Oldenbourg.
Meyer, H. (2004). Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen Scriptor.
OECD (2020). Learning remotely when schools close: How well are students and schools prepared? Insights from PISA (im Internet).